Entdeckungen im Garten des Heidelberger Schlosses: Erinnerungen an Goethes Begegnungen mit Marianne von Willemer
Bei meinem Heidelberg - Aufenthalt bin ich einige Male zum Schloss-Ruine hinauf gewandert. Das machen natürlich viele Heidelberg-Besucher. Und vor uns heutigen haben das viele Berühmte der Vergangenheit gemacht.
Ob Friedrich Hölderlin bei seinen Heidelberg-Besuchen (1788/1795) zum Schloss hinauf gewandert ist, weiß man nicht, anzunehmen ist es. In seiner Ode "Heidelberg" (1798/1801) hat er in unnachahmlicher Weise den Eindruck geschildert, den man vom Tale - von der Alten Brücke - aus von den Ruinen hat.
Schicksalskundige Burg nieder bis auf den Grund,
Von den Wettern zerrissen;
Doch die ewige Sonne goß
Ihr verjüngendes Licht über das alternde
Riesenbild, und umher grünte lebendiger
Efeu; freundliche Wälder
Rauschten über die Burg herab.
Natürlich habe ich auch das Schloss besucht und einige Führungen absolviert, aber davon will ich nicht berichten. Ich erzähle hier von einer Geschichte, auf die ich bei Spaziergängen in die Anlagen um die Burg gestoßen bin.
"Hortus Palatinus" Jaques Fouquières 1620 |
Östlich von den Schloss-Gebäuden erstreckt sich der große Garten, der zwischen 1614 und 1619 den Kurfürst Friederich V., den unglückliche „Winterkönig“ – er war einen Winter König von Böhmen – anlegen ließ. Die architektonische Anlage mit ihren Stützmauern und Terrassen ist heute noch gut erkennbar. Doch von der ursprünglichen Struktur des „Hortus Palatinus“, eines Renaissance-Gartens, der das paradiesische „Goldene Zeitalter“ der Antike symbolisieren sollte, ist nicht mehr viel zu erkennen. Die Anlage wurde im 30-jährigen Krieg verwüstet und verfiel. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die inzwischen gewachsene Baum- und Buschvielfalt, die Hölderlin vor Augen hatte und etwas später romantische Dichter und Maler inspirierte, gerodet und ein botanischer Garten und Park angelegt. Dessen Grundbestand mit großen, teilweise exotischen Bäumen ist noch heute vorhanden.
Wandert man zur „Scheffelterrasse“ am Ende des Gartens, hat
man einen fantastischen Blick auf Heidelberg und das Neckartal hinunter. So
streben die meisten Touristen auch dahin. Dabei stoßen sie dann auch auf ein
Standbild, das den Schriftsteller Viktor von Scheffel als Wanderer zeigt. Der
1886 verstorbene Ehrenbürger von Heidelberg, im 19. Jahrhundert hoch geschätzte
Verfasser von historischen Romanen bzw.
Epen („Der Trompeter von Säckingen“, „Ekkehard“) und bekannten Liedern („
Wohlauf die Luft geht frisch und rein“, „Gaudeamus igitur“, „Alt Heidelberg du feine“) hat der Terrasse
den Namen gegeben. Obwohl ich einst als Abiturient den „Scheffelpreis“ der
„Literarischen Gesellschaft/ Scheffelbund“ erhalten hatte – er wird in
Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz an Gymnasien für die beste
Deutsch-Leistung der Abiturientenjahrgänge verliehen – war ich nicht geneigt,
bei meinen Spaziergängen ihm besondere Verehrung zu zollen.
Mein Interesse galt einem abseits am Ostrand der Terrasse
liegendem Winkel, den die meisten Besucher nicht beachten. Hier findet man eine
große steinerne Bank, von der man – ungestört vom Besucherstrom - beschaulich
auf grüne Wiesenflächen und Bäume schauen kann. In der Mitte der Rückenlehne
der Bank fesselt ein Reliefmedaillon den
Blick: es zeigt einen Wiedehopf auf einem Blatt-Zweig, den der Botanikkundige
als Gingko-Zweig identifizieren kann. Des weiteren finden sich auf der Bank
zwei eingemeißelte Verse: „ Und noch einmal fühlet Hatem Frühlingshauch und
Sommerbrand“ und „ Dort wo hohe Mauern glühen, finde ich den Vielgeliebten“.
Nahe bei der Bank steht eine Säule mit einem übergroßen Metallkopf. Die
Inschrift bringt einen auf die Spur, was es mit Bank und Ort auf sich haben. Die
Bank wurde anlässlich des 100. Jahrestags der Herausgabe der Gedichtsammlung
„West-östlicher Diwan“ (1819) errichtet. Sie soll an die Begegnung Goethes mit
Marianne von Willemer vom 23. bis 26.
September 1815 in Heidelberg und auf dem Schloss erinnern.
Der "muntere Greis" trifft seine "Suleika"
Meine Neugierde war geweckt und ich bin dieser Geschichte
nachgegangen. Herausgekommen ist die Geschichte eines alternden Mannes, der
hier im „Herbst“ seines Lebens einen neuen „Frühling“ gefunden hat. Sie wirft ein
Licht nicht nur auf Goethe als Dichter, sondern auch als „Lebemeister“. Sicher,
es ist Goethes Leben, von dem hier die Rede ist. Aber es gilt auch Goethes
Wort:
Steckt doch Mark in jedem Knochen / Und in jedem Hemde steckt ein Mann.
In Goethes Hemd steckte eben nicht nur der „Dichterfürst“, auch ein Mann, ein „Jedermann“. Und so mag die Geschichte
auch Elemente enthalten, die überpersönlich sind.
Julie von Egloffstein nach Joseph Karl Stieler (1828): Goethe |
Johann Wolfgang von Goethe hat Heidelberg zwischen 1775 und 1815 insgesamt acht Mal besucht. Sein letzter Besuch fiel in den September/Oktober 1815. Ein Jahr vorher hatte der 65jährige europaweit bekannte Dichter und Minister ohne „Portefeuile“ (d.h. ohne konkrete Amtsaufgaben) des Weimarer Herzogs Karl August die 30jährige Marianne Jung – damals noch unverheiratet – zum ersten Mal getroffen. Goethe war aus der Enge Weimars, aus zerrütten Familienverhältnissen, aus der Ehe mit seiner kranken Frau, geflohen und hatte sich auf eine Reise in das Land seiner Jugend gemacht, in die die Rhein- und Maingegenden. In Wiesbaden trifft er seinen Freund und Bewunderer, den Bankier, Geheimen Rat und Senator Johann Jakob von Willemer aus Frankfurt. Willemer stellt ihm seine „kleine Gefährtin“ vor, Demoiselle Jung.
Goethe hatte den „West-östlichen Diwan“ (Divan: persisch=
Sammlung), seine bedeutendste Lyriksammlung, begonnen. Er hatte sich mit
orientalischer Literatur beschäftigt und seine Absicht war, den „Osten und
Westen, das Vergangene und Gegenwärtige, das Persische und Deutsche zu
verknüpfen…“ In der Zeit des Niedergangs
Napoleons, des Zerfalls Deutschlands und Europas, der beginnenden restaurativen
Neuordnung der Verhältnisse durch den Wiener Kongress, begibt er sich innerlich
in den Orient und in die Zeit des persischen Dichters Hafis (um 1315-1390), des
Sänger der Liebe und des Weins. Auch dies ist eine Flucht, eine geistige,
poetische, die aber mit seinen realen Bestrebungen und seiner faktischen Reise
korrespondiert. Goethe will sich im „reinen Osten“ an „Chisers Quell“ – einem
mythischen Jungbrunnen – verjüngen. Dabei tragen die Gedichte Goethes aber
durchaus Zeitbezüge:
Nord und West und Süd zersplittern, / Throne bersten,
Reiche zittern, / Flüchte du, im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten! /
Unter Lieben / Trinken, Singen / Soll dich Chisers Quell verjüngen.
(West-östlicher Diwan, Buch
des Sängers, Gedicht „Hegire“ – das ist die
Flucht Mohammeds aus Mekka nach Medina, mit der eine neue Zeitrechnung
beginnt.)
Es war eine produktive Zeit für den Weimarer Poeten und auf
der Reise entstanden viele Gedichte. Goethe macht eine seiner Wandlungen und
Neugeburten durch. Inmitten der gesellschaftlichen, politischen Umbrüche
beginnt für ihn eine neue individuelle Zeitrechnung.
Und so lang du das nicht hast, / dieses: Stirb und Werde! /
Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde.
Der „schöne Greis“ mit dunklen Augen, braunem Gesicht und
roten Wangen macht eine „wiederholte Pubertät“ durch. Auf der Reise erlebt er
eine „Sonnenhochzeit“: Die Sonne dringt durch einen Regenschleier, ein weißer
Regenbogen entsteht. Die wird ihm zum Zeichen:
So sollst du, munterer Greis, / Dich nicht betrüben, / Sind
gleich die Haare weiß, / Doch wirst Du lieben.
Die erfüllt sich für ihn in der Liebesbeziehung zu Marianne
von Willemer. Sie wird seine „Suleika“ im „Diwan“. Er erweckt in ihr nicht nur
eine große Leidenschaft, sondern auch ihre dichterische Begabung, mit der sie ihm - als „Hatem“ - auf
seine Gedichte poetisch antwortet.
(Hatem und Suleika sind Gestalten der persischen Literatur /
Suleika ist die Frau des biblischen Potiphar, in der muslimischen Tradition
eine geistvoll und keusch Liebende.)
Goethe und Marianne von Willemer - Liebesgeständnisse in Gedichtform
Marianne von Willemer 1809 |
Wer war diese Frau? Marianne ist wohl 1784 in Österreich
geboren und wuchs in Wien auf. Ihre Mutter war Schauspielerin, der Vater ist
unbekannt. Früh tritt sie in die Fußstapfen der Mutter, betätigt sich
schauspielerisch und tänzerisch. 1798 kommt sie mit ihrer Mutter nach Frankfurt,
sie tritt im Frankfurter Nationaltheater auf.
Der Oberdirektor des Frankfurter Theaters, Willemer, wird auf sie
aufmerksam. Er kauft sie ihrer mittellosen Mutter regelrecht ab und nimmt sie
als Pflegekind in sein Haus auf, wo sie mit seinen Töchtern erzogen wird. Der
Dichter Clemens Brentano verliebt sich in sie. Da beginnt der verwitwete
Willemer um sie zu werben. Auch auf Anraten Goethes heiratet der 54jährige die
„kleine, liebenswürdige“ Frau im September 1814. Kurz vor der Heirat und auch
danach zwei Mal im Oktober 1814 begegnen sich Goethe und Marianne wieder, in
der Gerbermühle bei Frankfurt (Willemer hatte sie gepachtet), in Willemers
Stadthaus in Frankfurt und in seinem Sommerhäuschen in Sachsenhausen, teilweise
in Abwesenheit Willemers. Der Funken zwischen den beiden hat gezündet.
Goethe reist nach Weimar zurück. Über Bekannte,
verschlüsselte Briefe und Gedichte bleiben die beiden in Kontakt. Man fragt
sich, ob Willemer die Tiefe dieser Beziehung erkannt hat, und wie er dazu zu steht.
Er selbst mahnt ein Lebenszeichen von Goethe im Namen seiner Frau an. Goethe
antwortet:
Und so bringt vom fernen Orte / Dieses Blatt auch goldne
Worte, / Wenn die Lettern schwarz gebildet; / Liebevoll der Blick vergüldet.
Willemer lädt Goethe erneut ein. Dieser reist im Mai 1815 wieder
nach Frankfurt und Wiesbaden. Er zögert, seiner „Kleinen“ zu begegnen und
unternimmt andere Aktivitäten (z. B.
eine Reise mit dem alten Freiherrn von Stein nach Köln). Im Juni trifft er die
Willemers auf der Gerbermühle. Marianne umschwärmt und verwöhnt ihn. Sie singt
vor ihm beziehungsreiche Lieder und spielt Gitarre. Sie lesen gemeinsam im
"Hafis", schicken sich einander chiffriert Zeilen seiner Gedichte und der Goethes zu.
Goethe liest Gedichte aus seinem „Diwan“ vor. Spaziergänge, Ausflüge werden
unternommen. Goethe bleibt bis zum September. Man wechselt zwischen dem Stadthaus
der Willemers in Frankfurt und der romantischen Gerbermühle. Das Suleika –
Hatem – Wechselspiel der beiden Liebenden hat begonnen. Der Wiedehopf – in der
orientalischen Tradition gilt er als Liebesbote, der zwischen Salomo und der
Königin von Saba hin und her flog – wird zum Symbol der Botschaften, die
zwischen den beiden hin- und her fliegen. Goethe-Hatem richtet folgendes
Gedicht an Marianne:
Nicht Gelegenheit macht Diebe / Sie ist selbst der größte
Dieb; / Denn sie stahl den Rest der Liebe, / die mir noch im Herzen blieb.
Dir hat sie ihn übergeben, / Meines Lebens Vollgewinn, / dass ich nun, verarmt, mein Leben/ Nur von dir gewärtig bin…
Suleika-Marianne antwortet:
Hochbeglückt in deiner Liebe, / Schelt ich nicht
Gelegenheit, / Ward sie auch an dir zum Diebe; / wie mich solch ein Raub
erfreut…
Was so willig du gegeben, / Bringt dir herrlichen Gewinn; /
Meine Ruh, mein ganzes Leben/ Geb ich freudig, nimm es hin…
Es sind mindestens drei Gedichte im Buch „Suleika“ des „Diwan“,
die von Marianne stammen. Sie sind Goethes Versen poetisch ebenbürtig – und in
der Gefühlstiefe ihm überlegen. Goethe hat bei der Herausgabe des Werkes ihren
Verfassernamen nicht genannt – wohl aus Taktgründen. In einem Gespräch mit dem
Publizisten und Goethe-Forscher Herman Grimm bekannte die fast 70-jährige
Marianne von Willemer ihre Mit-Autorschaft an den Hatem-Suleika-Gedichten des
„Diwan“. Grimm hat diese Mitteilung erst nach ihrem Tode (1860) der
Öffentlichkeit bekannt gemacht.
Das zitierte Gedicht-Duett ist im Umkreis eines bedeutsamen
Abends am 15. September 1815 in der Gerbermühle entstanden. Dort hatten sich
Goethe, die Willemers und Sulpiz Boiseree getroffen. Boiseree aus Köln ist mit
seinem Bruder Melchior als Sammler und Wiederentdecker altdeutscher und frühniederländischer
Kunst bekannt geworden. Die beiden hatten ihre Kunstsammlung im Palais
Sickingen am Karlsplatz (heute Gemanistisches Seminar) in Heidelberg
ausgestellt, wo sie viele, auch prominente, Besucher, fand. Goethe hatte auf
seiner Reise 1814 die Brüder und die Ausstellung besucht. Im Gegensatz zu den
Romantikern blieb er reservierter. Doch Sulpiz war es gelungen, Goethes
Freundschaft zu erwerben. Er begleitete Goethe mehrfach und zeichnete die
Gespräche im Hause Willemer in seinem Tagebuch auf, auch den „heiteren Abend“
am 15. September: „G. hatte der Wilmer ein Blatt des Ginkho biloba als Sinnbild der Freundschaft geschickt aus der Stadt. Man weiß nicht ob es eins, das sich in 2 teilt, oder zwei
die sich in eins verbinden…“
Das Blatt des Ginkgo-Baumes zeichnet sich durch eine
Fächerform aus und hat in einer frühen Phase einen tiefen Einschnitt in der
Mitte, sodass der Eindruck entstehen kann, dass es aus zwei Teilen
zusammengewachsen ist. Goethe hatte einen „Vers“ dazu geschrieben, in dem es
heißt, „dass ich Eins und doppelt bin“.
Das Hauptthema des Abends drehte sich um diese Formulierung, in der sowohl
Goethes Person als auch untergründig das Verhältnis der beiden Liebenden
angesprochen ist.
Nach dem Erhalt des Gedichtes „Hochbeglückt in deiner
Liebe…“ kann Goethe nicht mehr übersehen, was er in Marianne entfacht hat. Er
reagiert wie schon früher, wenn eine Liebesbeziehung zu nahe gerückt war und seine persönliche
und dichterische Weiterentwicklung einzuschränken drohte: mit Flucht. Am 18.
September verlässt er die Gerbermühle und Frankfurt. Er begibt sich nach
Heidelberg, wo er mit dem Theologen und Orientalisten Paulus Fachgespräche
führt. Willemers teilt er mit, dass seine Heimreise nicht über Frankfurt
erfolgen werde. Womit er aber nicht gerechnet hat: die Willemers tauchen am 23.
September in Heidelberg auf und mieten sich im „Goldenen Hecht“ ein (heute
"Holländer Hof"). Weitere drei Tage und Nächte verbleiben den Liebenden.
Was in dieser Zeit alles geschah, bleibt ein Geheimnis
zwischen den beiden und Generationen von Germanisten haben darüber ihre
Vermutungen angestellt. Belegt sind die Spaziergänge der beiden in den
Heidelberger Schlossgarten. Goethe zeigt Marianne einen Gingko-Baum, wohl in
der Nähe der heutigen Goethe Bank. (Man hat dort einen solchen Baum gepflanzt,
der noch jung ist – aber auf dem Weg dorthin, zwischen einem Brunnenhäuschen
und der Scheffelterrasse, steht ein alter, gewaltiger Gingko!) Am 26.
September, dem Abschiedstag, spazieren sie noch einmal durch den Park. Goethe
führt Marianne an einen „springenden, wallenden“ Brunnen am „Ende des Kanals
der Hauptallee“ und schreibt in arabischer Schrift „Suleika“ in den Sand.
1860 – kurz vor ihrem Tode - besucht Marianne noch einmal
den Heidelberger Schlossgarten und erinnert sich am Brunnen: „ Hier hat er mich
geküsst…Hier schrieb er mit seinem Stock einen Vers in den Sand“ und „Dies ist der Baum, von welchem er mir damals
ein Blatt brachte“.
In seinem Tagebuch notiert Goethe schon am 25. September:
„Abend-Music. Gespräch. Abschied.“. Am 26. September 1815 heißt es dann:
„Abreise der Freunde. Divan. Blieb zu Hause.“
Marianne und Goethe sahen sich nie wieder.
Goethe überdeckt sein „Brustweh, das sich fast in Herzweh
verwandelt hätte“ durch Gespräche mit Gelehrten und verwandelt es in Dichtung.
Das Gingko-Blatt als Liebes- und Persönlichkeitssymbol
Am 27. September schickt er sein später so betiteltes Gedicht
„Ginkgo biloba“ nach Frankfurt, nicht an Marianne direkt, sondern an ihre
Freundin, Willemers Tochter Rosine Städel. Er habe die „prosaische Auslegung“,
die das „wunderliche“ Blatt an jenem Abend in der Gerbermühle erfahren habe, in
eine „rhythmische Übersetzung“ gebracht, schreibt er.
Dieses Baums Blat, der, von Osten, / Meinem Garten
anvertraut, / Giebt geheimen Sinn zu kosten, / Wie´s den Wissenden erbaut.
Ist es Ein lebendig Wesen? / Das sich in sich selbst
getrennt; / Sind es Zwey? Die sich erlesen, / Daß man sie als Eines kennt.
Solche Frage zu erwiedern / Fand ich wohl den rechten Sinn;
/ Fühlst Du nicht an meinen Liedern, / Daß ich Eins und doppelt bin?
Veränderte Fassung des Goethe-Gedichts als Ginkgo biloba in Goethes Reinschrift, Goethe Museum Düsseldorf (wikipedia.org) |
In diesen herbstlichen Gingko-Blättern, die ich aufgenommen habe, ist der tiefe Einschnitt, den Goethe vor Augen hatte, nicht mehr zu sehen! |
So wurde das „wunderliche“ Gingko-Blatt zum Symbol von Goethes „zwei Seelen, wohnen, ach! in meiner Brust“ und der Liebe zwischen ihm und Marianne, seiner Verbundenheit mit ihr und der Trennung, geronnen nun in Poesie, nur „Wissenden“ bekannt. Damit wurde aber auch der Ginko im Westen erstmals zum heute noch vielfach verwendeten Symbol. (So hat eine liebe Bekannte meiner Frau eine Karte mit der Abbildung eines Gingko-Blattes mit guten Wünschen zu meiner Therapie in Heidelberg geschickt.)
Der Gingko ist ein geheimnisvoller Baum. Er ist wohl der
älteste Baum der Welt, weder Nadel- noch Laubbaum, eine eigene Gattung bildend,
zweigeschlechtlich – es gibt männliche und weibliche Gingkos. Seine
Fortpflanzung ist sehr kompliziert, mit Spermatozoiden, Eizelle und Embryo. Er
wurde Ende des 17.Jahrhunderts (von einem deutschen Forschungsreisenden in holländischem Auftrag) aus Ostasien nach Europa
eingeführt. (Zur Zeit der Begegnung Goethes mit Marianne war er noch ein
„neuer“ Baum in Deutschland, eine botanische Besonderheit und Rarität, die
vielleicht Goethes Aufmerksamkeit auch im Zusammenhang seiner Suche nach der
„Urpflanze“ erweckt hatte.) In China
hieß er „Gin-Kyo“, „Silber-Aprikose“, war ein Symbol für Yin und Yang, wurde in
Gedichten besungen und galt als heilkräftig. Seine gerösteten „Nüsse“ wurden
als Delikatesse und Lebenselexier hoch geschätzt (roh stinken sie ziemlich, wie
ich feststellte). Auch die moderne Forschung hat seine Heilkraft gegen
Durchblutungstörungen und Altersbeschwerden entdeckt. Als „Tebonin“ wird
Gingko-Extrakt“ vermarktet. Dieser „Ur- und Lebensbaum“ ist zum weltweiten
Hoffnungszeichen geworden, nachdem man im Zentrum der Atombombenexplosion von Hiroshima einen Ginko-Stumpf entdeckt hatte,
der wieder austrieb. Der Gingko gibt also wirklich „geheimen Sinn zu kosten“.
Goethe und Marianne Willemer haben sich zwar nicht mehr
gesehen, aber sie blieben bis ins hohe Alter miteinander verbunden, über
Briefe, Geschenke, Dichtungen, die sie einander zusandten. „Hud-Hud“
(arabisch), der Wiedehopf, flog weiter zwischen ihnen hin und her. Freilich,
Marianne, die sich zeitlebens durch seine Liebe erhöht fühlte, aber ihr auch nachtrauerte, war nicht die letzte seiner Geliebten.
Der "alte" Goethe und der Goethe in der Divan-Zeit |
"Hier war ich glücklich, liebend und geliebt" - Marianne von Willemers Erinnerungsgedicht
Auf der westlichen Terrasse des Heidelberger Schlosses, dem „Stückgarten“, mit Blick auf den „Dicken Turm“ mit den beiden Königsfiguren, steht eine Felssäule mit eingelassener Schrifttafel. Tritt man näher, kann man einige Strophen eines Gedichts entziffern, das von Marianne von Willemer stammt. Sie hat das Gedicht Goethe zu seinem 75. Geburtstag am 25. August 1824 geschickt. Es entstand anlässlich eines abendlichen Besuches des Heidelberger Schlosses am 28. Juli. In diesem Gedicht gibt die 40jährige mit bewegenden Worten ihrer Erinnerung Raum und ihren Gefühlen Ausdruck:
Euch grüß ich weite, lichtumflossne Räume, / Dich alten
reichbekränzten Fürstenbau, / Euch grüß ich hohe, dichtumlaubte Bäume, / und
über Euch des Himmels tiefes Blau.
Wohin der Blick das Auge forschend wendet / In diesem
Blütenreichen Friedensraum, / Wird mir ein leiser Liebesgruß gesendet / aus
meines Lebens freudevollster Traum.
An der Terrasse hohem Berggeländer / War eine Zeit sein Kommen und sein Gehen, / Die Zeichen,
treuer Neigung Unterpfänder, / Sie sucht ich, und ich kann sie nicht erspähn.
Dort jenes Baumsblatt, das aus fernem Osten / dem
westöstlichen Garten anvertraut, / Gibt mir geheimen Sinn zu kosten / Woran
sich fromm die Liebende erbaut…
Dem kühlen Brunnen, wo die klare Quelle / Um grünbekränzte
Marmorstufen rauscht, / Entquillt nicht leiser, rascher, Well auf Welle, / Als
Blick um Blick, und Wort um Wort sich tauscht.
O! Schließt euch nun ihr müden Augenlieder. / Im
Dämmerlichte jener schönen Zeit / Umtönen mich des Freundes hohe Lieder, / Zur
Gegenwart wird die Vergangenheit…
Schließt euch um mich ihr unsichtbaren Schranken / Im
Zauberkreis der magisch mich umgibt, / Versenkt euch willig Sinne und Gedanken,
/ Hier war ich glücklich, liebend und
geliebt.
Lange stand ich vor dieser Säule, beim Entziffern hin und
wieder von fotografierenden Touristen gestört, die dann rasch zur Aussicht ins
Tal eilten und blicke danach von der Terrasse auf das abendliche Heidelberg
hinunter, sehe den Neckar, die Rhein- und Mainebene, herbstlich verhangen. Ich
hänge meinen Erinnerungen und Gedanken nach…
Bei einem Besuch des Goethe-Hauses in Frankfurt stieß ich auf das Porträt Mariannes von Willemer, das uns eine gute Vorstellung von ihr gibt (oben abgebildet). Dort erwarb ich auch das Büchlein von Siegfried Unseld, Goethe und der Gingko (Insel Bücherei Nr. 1360), dem ich vieles des hier Geschriebenen verdanke.
Nach der Lektüre besuchte ich noch einmal die
Goethe-/Willemer-Orte auf dem Schloss, kenntnisreicher als vorher. Wieder
sammelte ich einige Gingkoblätter. Sie sind auch mir in meiner Situation zum
Hoffnungssymbol geworden und zum Zeichen der Verbundenheit mit meiner
Lebensgefährtin.
Wenn Ihr, liebe Freunde, nach Heidelberg kommt und das
Schloss besichtigt, werdet Ihr, nach der Lektüre dieser Zeilen, die Stätten der
Erinnerung an Goethe und Marianne Willemer mit mehr Aufmerksamkeit und
Bewusstheit aufsuchen als manche andere Besucher. Und vergesst nicht, ein oder
mehrere Gingko-Blätter mitzunehmen und Eure Erinnerungen, Gedanken und
Hoffnungen daran zu knüpfen.
(Dieser Aufsatz wurde 2012 während eines Therapie-Aufenthaltes in Heidelberg verfasst und an Freunde verschickt.)